October 31, 2009

Varanasi
Wie kann ich eine andere Kultur erfassen? Wie in eine fremde Welt eintauchen, die aus zahlreichen unterschiedlichsten Schichten besteht und nach mir völlig unverständlichen Regeln funktioniert?
Varanasi, die indische Stadt Shivas am heiligen Fluss Ganges, in den vieles geworfen wird; Tote, Knochenreste nach den Verbrennungen, Blumen-Malas, Tierkadaver, Abfall und Unmengen von Abwasser. Hier lebte ich während sechs Monaten, zusammen mit Tausenden von Menschen, unterwegs in einer nie endenden Bewegung, begleitet von einem Konzert aus unterschiedlichsten Hupen. Meine mitgebrachten Vorstellungen dieses Ortes wandelten sich Schritt für Schritt zu Erfahrungen. Gewissheiten wurden in diesem Prozess immer wieder in Frage gestellt. Mein Körper litt unter der Hitze und Luftverschmutzung, denen ich mich in diesem Verkehrschaos nirgends entziehen konnte. Es war aber gerade der Körper, der mir die Gewissheit gab, nicht bloss fremd, sondern in etwas Vertrautem verankert zu sein. Der Körper ist der erste Ort, die erste Hülle, Zelle, Grenze, die mich umgibt, das erste Haus in dem und mit dem ich mich bewege. Am Körper weisen wir auf, warum wir gehen und bleiben, durch den Körper kann ich mich selbst wahrnehmen und erfahren, an meine Grenze gehen. Dieses Zitat von Volker Adolphs wählte ich für meine Arbeit in Varanasi als Leitplanke.

Sari-Codes
Ich hatte mir vorgenommen, mich während meines Aufenthaltes mit textilen Materialien – genauer mit dem Sari, dem indischen Frauenkleid – auseinander zu setzen. In Varanasi tragen auch heute die meisten Frauen den Sari, dieses etwa sechs Meter lange Stofftuch, das sie auf unterschiedliche Arten um ihren Körper wickeln. Farben, Muster und Materialien signalisieren Zivilstand, Zugehörigkeit und Status innerhalb der Gesellschaft. Diese für alle erkennbaren Codes können für Frauen auch eine Stigmatisierung bedeuten. Der Sari ist jedoch nicht mein Kleid, er würde mich nicht schützen, sondern ausstellen, preisgeben. Nebst den festgelegten Codes suchte ich nach kleinen, unscheinbaren Zeichen, die durch das Tragen entstehen und die Geschichten der Frauen speichern: Brandlöcher, durchgesessene Stellen, Risse, geflickte Nähte. Die Suche nach gebrauchten Saris aus unterschiedlichsten Materialien war denn auch mein erstes Eintauchen in diese Stadt.
Ich hatte gehört, dass in der Altstadt zwischen Dashawamedh-Ghat und Golden Temple ein Schneider gebrauchte Seidensaris zu Kleidern verarbeitet. Diese Altstadt besteht aus unzähligen, nur etwa einen Meter breiten, namenlosen Gassen, mit Hunderten kleinen Läden, die alle irgendetwas anbieten, nur meist nicht das, wonach man gerade sucht. Beim ersten Besuch gelang es mir in diesem Gewirr von Strassen, Menschen und Tieren nicht, den kleinen Stoffladen zu finden. Selbst den Golden Temple, in dessen Nähe er sich befinden soll, hatte ich nirgends entdeckt, und so fuhr ich ohne Saris zurück in mein Atelier. Erst beim folgenden Besuch fand ich den Golden Temple. Er ist umschlossen von alten Häusern und darum von nirgends her sichtbar, ausser man steht direkt vor ihm, und auch dann ist er eigentlich nur als Fragment erkennbar. Ich fand schliesslich auch den Schneider Pintu. Als ich ihn nach den gebrauchten Saris fragte, holte er dicke Bündel aus dem Lager hervor. Je rund fünfzig gebrauchte Seidensaris werden mit einem Sari zu einem Ballen zusammen gebunden. So konnte ich aus einem riesigen Haufen nach Saris mit jenen Mustern und Farben suchen, die ich für meine Arbeit verwenden wollte.
Im Atelier riss ich sie in unterschiedlich breite Bänder, ich knotete, nähte und flocht sie zu langen Strängen zusammen. Da, wo ich sie zusammenfügte, entstanden Verdickungen, Knoten – Zeichen für die Ereignisse im Leben der Frauen, die sie getragen hatten, angereichert mit meinen eigenen Vorstellungen. Die Seidensaris aus Pintus Schneiderei erzählen von einem Leben in der besseren Gesellschaft, denn seidene Saris werden nicht von jenen Millionen Frauen getragen, die unter dem Existenzminimum leben und um das Überleben ihrer Familien kämpfen. Diese Frauen müssen sich mit einfachen Baumwoll- oder Kunststoffsaris begnügen, meist so lange, bis sie fast auseinander fallen. Eine andere Welt, die ich an einem anderen Ort in dieser Stadt suchen musste.

Grand Trunk Road
Die Grand Trunk Road ist eine mehrspurige, dicht befahrene Strasse parallel zur Eisenbahnlinie. Sie ist die Hauptverkehrsader durch den ganzen indischen Subkontinent – von Kalkutta über Delhi bis nach Kabul – und wird vorwiegend von grossen Überlandlastwagen befahren. Hinter dem Bahnhof, zwischen dem Eisenbahntrassee und dieser Strasse eingeklemmt, liegt eine Hüttensiedlung aus Bambusstöcken, Plastikfolien, alten Saris, mit kleinen Feuerstellen und Unmengen von Müll. Der Strasse entlang werden bündelweise alte Saris zum Verkauf angeboten; weitere Ballen liegen am Strassenrand. Alles an diesem Ort ist mit einer dicken Staubschicht bedeckt, die Saris, die Hütten und auch ihre Bewohner.

Ich stieg aus dem Tuktuk; sofort rannte eine Schar Kinder auf mich zu und alle wollten, dass ich sie fotografiere und dafür bezahle. Gleichzeitig lief eine Gruppe junger Männer mit einem Toten auf ihren Schultern die Strasse entlang. Sie hatten ihn in ein einfaches, weisses Tuch gewickelt, orange Blumenketten und etwas rotes Farbpulver schmückten ihn auf diesem letzten Gang – keine roten und goldbesetzten Stoffe, nur das Nötigste. Für die Träger schien es einfach ein Job wie jeder andere zu sein.
Als ich bei einer der Frauen einige Saris kaufen wollte, waren sogleich ihre fünf Kinder da und halfen mir beim Aussuchen. Mit der Zeit bildete sich von der Strasse her eine Traube neugieriger Männer um uns. Kaum hatte ich zwanzig Saris ausgesucht und mit ihr den Preis von zweihundert Rupien ausgehandelt, erschien ihr Mann und verlangte das Doppelte. Erst versuchte ich, ihm klar zu machen, dass sie es war, mit der ich verhandelt hatte, und dass er sich nicht einmischen solle. Es half nichts, und wir einigten uns auf dreihundert Rupien; er gab seiner Frau ein Zeichen, dass sie jetzt die Saris zu einem Bündel zusammen binden könne. Als er mir die Hand entgegen streckte, machte ich ihm wieder deutlich, dass ich das Geschäft mit seiner Frau begonnen hätte und ihr das Geld geben würde. Schliesslich gab er ihr erneut ein Zeichen, dass sie das Geld entgegennehmen könne. Sie nahm die Scheine, faltete zum Dank ihre Hände vor die Stirn und liess sie dann blitzschnell in ihren Büstenhalter verschwinden. Sie lächelte mir zu und ich hoffte, sie würde es behalten können. Denn bei meinem vorangehenden Besuch hier waren einige der Männer ziemlich betrunken und die Stimmung sehr angespannt gewesen, sodass ich ohne Saris wieder abgezogen war. Unterdessen hatten sich hinter mir einige der Männer mit ihren Rikschas positioniert. Sie wussten, dass ich eine auswählen würde; die enttäuschten Blicke der anderen waren jedoch nicht so einfach hinzunehmen.
Zurück in meinem Atelier wusch ich die Saris, befreite sie von der grauen Staubschicht. Erst jetzt kamen die kräftigen Farben der einfachen, zerschlissenen Stoffe zum Vorschein. Die Objekte, die daraus entstanden, sind Porträts jener Frauen, die sie getragen haben, und sie erzählen von ihren unterschiedlichen Lebensentwürfen.

Chowk
Chowk bedeutet so viel wie Kreisel, und einer dieser Kreisel kam mir wie der Nabel der Stadt vor. Deshalb hatte ich diesen Ort für meine Videoperformance ausgesucht, die ich mit meinem Objekt aus Sari-Strängen im öffentlichen Raum aufnehmen wollte. Um diesen Kreisel zirkulieren Tag und Nacht die unterschiedlichsten Fortbewegungsmittel: Rikschas, Handwagen, Motorräder, Fahrräder, Pferdegespanne und auch Autos. Unmengen von Waren werden von Trägern meist auf den Köpfen in die kleinen Läden in den schmalen Strassen der Altstadt getragen, die gleich dahinter beginnt. Gegenüber befindet sich eine grosse Polizeistation, die über eine Lautsprecheranlage entweder vor Taschendieben warnt, von der Abendzeremonie am Ganges berichtet oder Hindi-Musik spielt. Am Chowk vorbei tragen oft Gruppen junger Männer die Toten auf Bambusbahren zum Manikarnika-Ghat, dem Verbrennungsplatz unten am Ganges. Meist sind diese in schöne rot-goldene Tücher gewickelt und mit Blumen geschmückt; begleitet werden sie von weiteren jungen Männern, die Mantras singen oder Holzscheite mit sich tragen. Direkt hinter der Polizeistation beginnt jener Stadtteil, der von Moslems bewohnt wird. Auch hier reiht sich ein kleines Geschäft an das andere, vorwiegend mit Haushaltartikeln. Am Rande des Platzes warten Blumenverkäufer mit ihren Malas auf Kundschaft. Dahinter liegt der Parkplatz für Autorikschas, deren Fahrer sich sofort auf einen stürzen, sobald man ihn betritt. Um den Kreisel herum sitzen Taglöhner und warten auf Arbeit. Die Strasse und der Chowk werden von allen genutzt.

Hier stellte ich mich hin, das Objekt aus Saris wie eine grosse Mala um meinen Körper gewickelt – ein Fremdkörper. Fremd wirkte ich an diesem Ort als Weisse, als Frau, durch meine Kleider und das seltsame Objekt. Um mich herum herrschte in unterschiedlichen Tempi eine ununterbrochene Bewegung. Männer sassen um den Kreisel, beobachteten mich, inszenierten sich, schleppten Waren vorbei oder fuhren mit allen Arten von Fahrzeugen über den Platz. Einer wollte mir eine Blume schenken und lief etwas verärgert davon, als ich nicht reagierte, andere umkreisten den Platz mehrmals und betrachteten mich von verschiedenen Seiten.
Ein älterer Taglöhner wies einen Strassenjungen an, sich neben mich zu stellen, um Teil des Bildes zu sein. Ein Polizist, der ihn beobachtete, drohte ihm mit seinem Stock, sodass er sich aus dem Staub machte. Während sich der eine sein Tuch immer wieder um den Kopf band und ein anderer frische Hosen anzog, sang eine Gruppe junger Männer das hinduistische Mantra mit, das aus den Lautsprechern der Polizeistation dröhnte.

Einige Tage später kehrte ich hierher zurück, um die Sicht von meinem Standpunkt im Mittelpunkt des Kreisels aus zu fotografieren. Auf der Strasse lag verloren ein kleines rotes Stück Stoff, das von niemandem beachtet wurde. Motorräder und Rikschas fuhren darüber, Menschen liefen daran vorbei. Mir jedoch erschien es wie ein Überbleibsel meiner roten Saris, ein kleines persönliches Zeichen; ich las es auf und nahm es mit.
Vieles, was sich während meiner Performance um diesen Kreisel abspielte, sah ich erst in den Videoaufnahmen: die hierarchische Einteilung dieser Welt, die fast ausschliesslich aus Männern besteht, die sozialen und religiösen Codes, die mit der Bekleidung kommuniziert werden. Diese Codes für Frauen und Männer, für Religionen und soziale Schichten, sind für Uneingeweihte schwer zu entschlüsseln. Eine der grössten Herausforderungen, der ich mich in Varanasi stellen musste, war, zwischen meinem eigenen kulturellen Unverständnis einerseits und den menschlichen Ungerechtigkeiten andererseits zu unterscheiden. In dieser Stadt habe ich meine eigenen Grenzen auf vielen Ebenen immer wieder erfahren, und sie hat mir täglich meine eigene Endlichkeit vor Augen geführt.

Aarti
Kurz nach meiner Ankunft in Varanasi anfangs Juli fuhr ich zum Assi-Ghat und lief von dort aus den Ganges entlang, um einen geeigneten Ort für meine Videoarbeit zu finden. Jeder der achtzig Ghats hat eine andere Ausstrahlung. Vom ersten Moment an mochte ich den Tulsi-Ghat besonders gern. Zwei Treppen führen hinunter ans Wasser, und zwischen ihnen stehen drei kleine, zum Fluss hin offene Tempelhäuschen mit Götterfiguren in ihrem Inneren. Ich setzte mich auf das Dach des mittleren, den Fluss im Rücken, und schaute lange direkt auf die Treppe und die Fassade des darüber stehenden Gebäudes. In den zwei kleinen Nischen rechts und links des verschlossenen Eingangs hatte sich eine Frau eingerichtet: Aarti – eine schöne, etwa fünfzigjährige Frau, die alleine als Sadhu in diesen Nischen am Ganges lebt. In der einen Nische sah ich eine kleine Feuerstelle und etwas Kochgeschirr. Das Holz zum Kochen suchte sie am Flussufer, und das Wasser schöpfte sie mit einem Tontopf aus dem Ganges. In der anderen Nische lagen einige Saris und alte Kleider – ihr Schlafplatz. Zum Trocknen hängte sie diese vor den Eingang und schützte sich so gleichzeitig vor unerwünschten Blicken.
Nicht weit von ihrer Nischenbehausung wollte ich die Kamera für meine Videoarbeit positionieren, und so setzte ich mich für längere Zeit an jener Stelle auf die Treppe und betrachtete das stete Kommen und Gehen der Menschen und Tiere am Fluss.
Einige Tage später kehrte ich mit Alessandre, einem Schweizer Schriftsteller, an den Tulsi-Ghat zurück, um die Videoperformance «my Body my Place» aufzunehmen. Während Stunden sass ich auf dem Dach des mittleren Tempelhäuschen, bei über vierzig Grad Hitze, und schrieb all die kleinen Ereignisse, die ich um mich herum wahrnahm, auf ein Tuch. Aarti kauerte währenddessen vor ihrer Behausung und beobachtete uns. Tage später, als ich wieder dort sass, setzte sie sich zu mir. Wir schauten uns einfach an, und dabei wedelte sie uns beiden mit ihrem Fächer Luft zu. In den folgenden Wochen besuchte ich sie immer wieder und brachte ihr jeweils ein paar Äpfel oder Mangos mit. In einem Stoffbeutel bewahrte sie ihre Bücher auf mit Götterbildern, die sie mir in Hindi beschrieb, und heiligen Texten, und aus denen sie mir zwischendurch immer wieder Passagen vorsang.
Kurz darauf – seit unserer ersten Begegnung waren inzwischen drei Monate vergangen – fand ich bei einem erneuten Besuch ihre Nischen ausgebrannt; alles war völlig durcheinander. Ich setzte mich für eine Weile vor den Eingang, wartete besorgt auf Aarti und lief schliesslich den Fluss entlang. Einige Ghats weiter kam sie mir entgegen. Erst hatte ich sie kaum wiedererkannt: Sie wirkte sehr zerbrechlich, war abgemagert und hatte ihr Haar kurz geschoren. Wir setzten uns zusammen auf eine der Treppen, worauf sie mir zuerst ihre Schätze zeigte: eine Blumenkette, etwas Mehl, Reis, eine halbe Kokosnuss, die sie mir gleich schenken wollte. Ich brach ein kleines Stück ab und gab sie ihr zurück. Dann zeigte sie mir ihre Verbrennungen und Schürfungen an den Beinen. Lange erzählte sie, was am Tulsi-Ghat geschehen war. Soweit ich verstehen konnte, war einer der dort im Freien hausenden Männer, nachdem er zuviel getrunken hatte, gewalttätig gegen sie geworden. Sie war ins Spital oberhalb der Strasse geflohen. Ich gab ihr etwas Geld, und sie lief in Richtung des Tulsi-Ghat weiter – zurück in ihre Nischen, um ihr Leben als Sadhu weiter zu leben.
Zwei Tage später besuchte ich sie erneut. Sie zeigte mir voller Stolz, wie sie kochte, und das Bild von Sita und Rama, das sie vor dem Einschlafen jeweils betrachtete. Neben ihrem Schlafplatz hatte sie inzwischen einen Eisenstab hingestellt, denn in der Nacht war sie ja bloss durch die zwei Saris geschützt, die sie jeweils vor ihren Eingang hängte. In Anbetracht der Männer, die hier bei Dunkelheit den Ghats entlang schlichen, war sie in ihrer Nische alleine als Frau doch sehr schutzlos. Lange erzählte sie mir von sich, von ihrem Leben, und dass sie eines Tages an dieser Stelle über den Ganges gehen werde. Dann sang sie mir improvisierte Lieder vor. Dabei wirkte sie sehr zerbrechlich. In einem dieser Lieder sang sie:

Alle sagen: Guru du bist ungebildet
Geh Guru, geh mit deinem Segen
Oh, diese Verrücktheit
was für ein Vergnügen
Auf dem Kopf ein roter Hut
Die Füsse in japanischen Sandalen
Aber mein Herz ist indisch
und noch immer stolz, Hindustani zu sein

Die Strasse ist offen
alle kommen auf offener Strasse
Dann gehen wir ganz hinauf zum Himmel
zu dir, bester Freund
Wenn ich von hier gehe
alles Gute, liebe Freundin
Wenn man von hier geht
trifft man vielleicht nicht das
was man erhofft hat

Die Wahrheit haben die Kinder
Du hast gehört
von meiner Schwärmerei für Gott
Wenn ich gehe
werde ich ein Lächeln haben
Irgendwann, liebe Freundin
müssen wir alle gehen
Und wer weiss, wann das ist
Gut
dann gehen wir halt
So ist das

Am folgenden Tag sollte am Tulsi-Ghat ein grosses Fest stattfinden, die Tulsi-Puja. Tulsi bedeutet in Hindi Basilikum – ein Fest also zu Ehren der heiligen Basilikumpflanze. Aarti hatte für diesen Anlass gemeinsam mit anderen Frauen vor ihrer Behausung eine etwa zwei Meter grosse liegende Figur aus Erde geformt, die sie mir an diesem Abend unbedingt zeigen wollte.
Das Fest würde am nächsten Morgen vor Sonnenaufgang beginnen. Als ich gegen sechs Uhr früh ankam, war der Platz bereits voller Frauen. Sie sassen in Gruppen zusammen und hatten in ihrer Mitte alles ausgebreitet, was sie für das Ritual brauchten: Kupferkrüge mit Gangeswasser, Malas, Bananen, Kokosnüsse, rotes Farbpulver, Erde und Tulsi. In einigen Gruppen kneteten die Frauen aus Erde kleine Figuren und stellten sie in ihrer Mitte auf. Andere sangen Mantras und bewegten dazu kleine Tongefässe mit brennendem Docht, sogenannte Aartis; von diesen Lichtern leitet sich auch ihr Name ab.

Am Tulsi-Ghat traf ich Aarti und wir gingen zuerst zu ihrer Lehmfigur, die inzwischen mit Malas, Früchten und Aartis übersät war. Frauen berührten und umkreisten sie ohne Unterbruch.
Sie führte mich danach die Treppe hoch auf die Dachterrasse «ihres» Gebäudes und zeigte mir den wunderschönen Ausblick über den Ganges bei Sonnenaufgang. Von einer schmalen Gasse her traten wir in das Gebäude ein. Ein leerer Gang, in dessen Mitte ein Steinwürfel stand, führte uns in einen Raum, der sich auf zwei Seiten öffnet. Hier standen mit Malas vollbehängte Figuren und um sie bewegten sich Menschen, die sich um sie kümmern. In dieser Stadt gibt es unzählige solche Götterstatuen, und ich hatte manchmal den Eindruck, dass es ihnen besser geht als vielen Menschen in Varanasi. Um dies wirklich verstehen zu können, fehlen mir jedoch die nötigen religiösen Gefühle.
Auf den Ganges hin öffnete sich ein breiter Gang, der durch eine «Gittermauer» den Blick nach draussen freigab. Von hier oben betrachtet strahlte der Fluss etwas Heiliges aus, hier glitzerte er in der Morgensonne und hatte nichts von der Kloake, die er auch ist.
Beim nächsten Tempel läutete Aarti die Glocke. Ich zog die Schuhe aus, wir traten zusammen ein und umkreisten den inneren Block. Das Wichtigste an diesem Tempel ist sein Wassergraben: Auf drei Seiten, die oben vergittert sind, führen je dreissig Stufen zum Wasser hinunter. Für Aarti ist es ein massgeblicher Ort in ihrem Quartier, und so wusste sie, welches der Gitter sich öffnen liess. Sie führte mich die Treppe hinunter, auf der überall verstreut nasse Kleider lagen. Diese werden von ihren Besitzern nach dem Bad im Ganges nass die Treppe hinunter geworfen, damit die Muttergöttin ihnen den Wunsch nach einem Kind erfüllt. In einer Ecke türmten sich dicke, in alte Saris gewickelte Kleiderbündel, die mich an Aartis Schlafplatz erinnerten. Sie trank etwas Wasser und träufelte sich und auch mir einige Tropfen über den Kopf.
Wieder oben und draussen, auf einer stark befahrenen Strasse angelangt, tranken wir erst einen Chai, bevor wir einen Ashram besuchten, in dem zahlreiche Sadhus leben, die täglich in ihren orangen Kleidern an den Ganges pilgern. Die meisten sind ältere, oft raue Kerle, die hier ein Zuhause gefunden haben. Aarti wollte mich ihrem Babaji vorstellen und führte mich in einen etwas erhöhten Bereich, in dem rund dreissig Sadhus auf Stühlen sassen. Dies löste eine ziemliche Protestwelle aus. Ich war etwas irritiert, denn Aarti bestand darauf, dass ich ihr folgte. Doch die Männer liessen innert Sekunden einen Polizisten kommen, der mir ziemlich klar zu verstehen gab, dass ich hier nicht erwünscht war. Dies war denn auch für Aarti ein klares Zeichen, und wir verzichteten beide darauf, an diesem Morgen ihren Babaji zu begrüssen.
Draussen auf der Strasse zeigte sie mir das Spital, das gleich gegenüber lag, in dem sie einige Zeit verbracht hatte.
Sie führte mich zum nächsten Tempel, und unterwegs kauften wir einen Sack Äpfel. Um einzutreten mussten wir uns durch eine niedrige Öffnung ducken. Dann befanden wir uns in einem sehr stillen Tempelhof, in dem ein anderer ihrer Babajis sass, der sehr freundlich wirkte. Aarti sprach eine Weile mit ihm, kniete sich dann vor ihn nieder und berührte seine Füsse. Sie besucht ihre Babajis regelmässig, um deren Füsse zu berühren, und dadurch gehört sie zu einer Gemeinschaft, die ihr als Sadhu-Frau Sicherheit gibt.
Nach diesem fünfstündigen Rundgang kehrten wir an den Tulsi-Ghat zurück, wo noch immer viele Frauen um ihre Lehmfigur kreisten.

Ich hatte mir für meine Arbeit diesen Ort ausgesucht, ohne zu wissen, was er in sich birgt – ohne zu wissen, dass ich dort einer Frau begegnen würde, die ausser ihrem Körper praktisch nichts besitzt. Auch wenn wir nicht die gleiche Sprache sprechen und nicht dasselbe Leben führen, gibt es etwas, das uns verbindet.

Ich traf Aarti später noch einmal am Assi-Ghat. Weil Beat, ein Schweizer, der schon lange in Varanasi lebt und gut Hindi spricht, auch da war, bat ich ihn, ihr einige Fragen zu stellen. Sie gab ihm aber bloss zu verstehen, dass sie mich während der Tulsi-Puja in ihrer Welt herumgeführt hatte, weil sie mit mir eine spirituelle Verwandtschaft spüre. Über sich und ihre Geschichte erzählte sie ihm nichts. Dann begleitete ich sie an den Tulsi-Ghat. Sie setzte noch einmal zu einer langen Erzählung an, und je länger ich ihr zuhörte, desto klarer nahm ich ihre Verletzlichkeit wahr. Sie hatte inzwischen eine Hündin mit drei Jungen bei sich aufgenommen, für die sie aus alten Kleidern einen Platz eingerichtet hat. Sie bot mir Chai an, doch da sie ihn mit Gangeswasser zubereitet hatte, lehnte ich ihn ab.